Die Brennerbande, Teil 72


Als sie in der Konditorgasse anlangten, klopften sie erschöpft an die Tür und mussten nicht all zulange warten, bis sie der Buttlertyp öffnete. "Guten Tag, Herr Soldrang. Ist Herr Kargerheim schon da?"
"Herr Kargerheim und auch Herr Unterschnitt sind noch nicht wieder zurückgekehrt." Die Feldstraßler traten ein und konnten die Geräte von Herrn van der Linden unter der Garderobe sehen. In dem Moment kam Walmo die Treppe hinunter.
"Da seid ihr ja endlich." Sein Blick wanderte vom einen zum anderen. "Aber wo ist Gunnar? Ich dacht', er is' euch mit Herrn Kargerheim entgegengegangen."
"Ham se nicht getroffen," sagte Malandro.
"Grabengrütze."
"Warum? Sie kommen schon wieder. Die waren nich' so schlimm."
"Hey, find ich schon," warf Walter ein und deutete auf seine Nase. Walmo ging auf seinen Bruder zu und sah ihm ernst auf die Nase.
„Was is passiert?“ Aber Walter winkte ab.
"Gut, sehs ja ein. Aber dich haben se ja auch für nen Spion gehalten."
"Und was is mit Gunnar? Und Herrn Kargerheim? Die kommen auch nich so rein, wie ihr beiden. Kargerheim sagte, er will klopfen."
"Wie lange sind sie schon weg?" Tiscio wurde auf einen Schlag hektisch. Er spürte zwar seine Knochen von den vielen Wegen des Tages, aber er spürte plötzlich, dass da was ganz übles bei rauskommen würde, wenn sie sie nicht aufhielten.
"Vielleicht ne halbe Stunde."
Ohne ein weiteres Wort rannten Tiscio, Malandro und Walter aus dem Haus. Walmo zögerte einen Augenblick, bis er sich ihnen anschloss. Normalerweise waren sie jetzt auf dem Weg nach Hause, nach einem körperlich anstrengenden Tag in der Fabrik oder auch in der Schlosserei, wenn sie denn noch zur Arbeit gegangen wären. Anschließend hätten sie noch rumgehangen, aber aus irgendeinem Grund war dieses herumgerenne anstrengender als alles, was sie in der Fabrik oder sonst wo hätten tun können. Bei Walter und Malandro kam noch hinzu, dass ihnen die Köpfe brummten, dem einen mehr, dem anderen weniger. Dennoch liefen sie so gut sie konnten. Tiscio, der schnell die Führung übernommen hatte, verlangsamte seine Schritte, damit die drei anderen mithalten konnten. Sie wussten allerdings auch, dass sie vorsichtig sein mussten. Nicht nur, dass sie in der Dunkelheit, so ungeschützt und unvorsichtig, wie sie voraneilten, ein leichtes Ziel für alle möglichen Kleinkriminellen waren. Auch die Bertis neigten dazu, laufende Burschen anders zu beobachten und im Zweifelsfall sogar zu verfolgen. Und die Bertis waren gute Läufer und um diese Zeit waren sie auch noch ausgeruht, denn die neue Schicht hatte gerade begonnen.
Mit dem Mauerdurchbruch nahm ihre Vorsicht zu und ihre Geschwindigkeit ab. In der Neustadt gingen sie die ihnen vertrauten Pfade, was ein Glück war, denn so begegneten sie Gunnar, der ihnen außer Atem und mit den Nerven am Boden entgegen lief. Zum Glück lief er gerade unter einer funktionierenden Gaslampe, so dass sie ihn erkannten und nicht an ihm vorbei gelaufen waren. Denn Gunnar hatte sie nicht einmal wahrgenommen. Er war so atemlos, dass er fast die ganze Zeit auf die Straße blickte. Sie mussten ihn am Arm halten, um seine Schritte zu verlangsamen. Glücklicherweise war er zu erschöpft, sonst hätten seine Schläge, die er in Panik austeilte, wirklich weh tun können.
"Grabengrütze, ihr seid es. Sie haben Kargerheim."
Sie setzten sich auf den Bordstein, nur Tiscio blieb stehen und beobachtete die Umgebung. Sie ließen Gunnar Zeit, wieder zu Atem zu kommen, schließlich wurde Tiscio jedoch so unruhig, dass Malandro es für nötig hielt, endlich mit den Fragen zu beginnen.
"Erzähl schon."
"Grabengrütze," wiederholte Gunnar, "dachte, ihr wärt noch da, deswegen ist Kargerheim mit zu eurer Rettung gekommen. Er wusste nicht genau, wo wir hin mussten, aber dann griffen sie uns auf. Mich haben sie wieder rausgeschmissen. Haben nur gesagt, dass ich Unterschnitt Bescheid sagen soll.."
"Wir müssen noch mal hin."
"Oh ne, ey!"
"Das is nich sinnvoll," sagte Gunnar.
"Warum nich?"
"Meinst'e, wir kriegen Kargerheim da raus?"
"Vielleicht können wir mit ihm reden?" Malandro blickte
"Willst'e das?"
Malandro sah zu Tiscio hoch. Entsetzen begann sich über sein Gesicht auszubreiten. Sie schüttelten beide den Kopf.
"Aber wir müssen was tun."
"Wir können aber nichts tun."
"Gresgors Eier." Gunnars erstauntes schnaufen war deutlich hörbar, aber auch die anderen sahen Malandro mit großen Augen an.
"Hey, pass auf dein Maul auf. Sonst mußt du's noch waschen."
Gunnar stützte sich langsam von der Bordsteinkante hoch. "Lass uns gehen. Wir müssen Unterschnitt Bescheid sagen. Und ich bin total erschöpft." Es war eine gewagte Aussage unter Jungs, die versuchten, immer stark zu sein. Zu seiner Überraschung grinsten ihn die anderen jedoch nicht geringschätzig an, sondern sahen fast dankbar aus, dass einer es zugegeben hatte. Tiscio half zuerst Malandro auf, dann Walter. Walmo klopfte seinem Bruder den Arm und sie machten sich auf den Weg zurück. Diesmal gingen sie langsam, wenn man es nicht sogar schleichen nennen wollte.
Als sie diesmal in der Konditorgasse eintrafen zogen sie gleich ihre Schuhe aus und gingen in die Küche hinunter, wo die Köchin ihnen Brei zubereitete und Panas warm machte. Den Brei süßten sie mit getrockneten Früchten, die schmeckten, als wenn sie ein Jahr lang über einen Kohlenfeuer gestanden hätten um sich mit dem Ruß vollzusaugen, was vermutlich nicht so fern der Wahrheit war.
Allerdings konnten sie das Abendbrot nicht genießen, obwohl es im Rahmen ihrer Ansprüche zu den Besseren gehörte. Sie mieden es, den Kopf zu heben und schwiegen in ihr Essen. Als Walmo es wagte, sie zu ihrem Aufenthalt bei den Rittern zu befragen, beendeten sie seinen Wortfluss mit finsteren Blicken. Noch während des Essens legte sich Gunnar auf die Tischplatte neben seine Schale und schlief ein. Sie aßen langsam und erschöpft. Die Köchin, die sie immer wieder kurz mit Blicken über ihre Schulter beobachtet hatte, platschte ungefragt jedem, außer Gunnar, einen zweiten Löffel in die Schale und die Feldstraßler aßen auch diese Portion, ohne ein einziges Mal hochzusehen.
Als sie aufstanden und Gunnar weckte war selbst dieser zu müde und deprimiert, um beim Abräumen zu helfen. Sie stützten den halbschlafenden Gunnar bis zum Zimmer. Dort angelangt warf er sich in sein Bett ohne seine Hose auszuziehen und war sofort erneut im Land der Träume, während die anderen auf das Geräusch der sich öffnenden Haustür warteten. Wenn einer einnickte, wurde er wieder geweckt, aber sonst bewegten sie sich kaum. Erst kurz nach 22:00 Uhr - sie konnten den Gong des Tempels vom Heiligen Redagius zwei Straßen weiter die Stunden schlagen hören - schreckten sie vom erwarteten Geräusch auf und stürzten aus dem Zimmer. Dass hieß, Malandro lief vorne weg, während Walter und Tiscio Gunnar zu wecken versuchten. Walmo hatten sie einschlafen lassen.
Als die Nachzügler zu Malandro aufschlossen, standen sie Unterschnitt in Begleitung einer bildhübschen jungen Frau gegenüber und die Situation hätte für alle Beteiligten kaum peinlicher sein können. Unterschnitts Blicke waren dementsprechend auch nicht besonders freundlich und er geleitete seinen Gast an den Feldstraßlern vorbei in sein Zimmer, bevor er sich ihnen zuwandte. Mit Zorn in Blick und Stimme flüsterte er ein leises: "Was wollt ihr?"
"Die Ritter haben Herrn Kargerheim geschnappt," eröffnete Malandro seinen Bericht. Unterschnitts Miene veränderte sich schlagartig und er hörte den Ausführungen der Jungs aufmerksam zu, drängte jedoch immer wieder, wenn ihre Erzählung zu ausschweifend oder zu hektisch wurde.
Als die Feldstraßler nichts mehr zu ihrer gemeinschaftlich vorgetragenen Geschichte hinzuzufügen hatten, seufzte der schlanke Mann.
"Ich kümmere mich um alles. Macht euch keine Sorgen." Dabei machte er eine vertreibende Handbewegung. Als sie gerade in ihr Zimmer kamen konnten sie noch ein leises "wie schade" von ihm hören, bevor auch er den Flur verließ.
In ihrem Zimmer nickten sie sich noch einmal zu, bevor sie den Tag hinter sich ließen.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 03